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Bildung und Kultur – Learning from Culture

Dokumentation Veranstaltungen


Veranstaltungen 11- 2016

Wirtschaftsfachtagung1)

Die digitale Revolution

Wie mit dieser Herausforderung umgehen?

Dr. Helmut de Craigher

Atemholen fällt schwer: Die digitale Hetze von Information, Geschwindigkeit und Komplexität in der Arbeits- und Alltagswelt lässt keine Denkpause. Gerade das zwingt aber dazu, sich nach dem politischen Sinn, der Richtung und der Steuerbarkeit zu fragen.

Diese Tagung christlicher Wirtschaftsethiker brachte aufsehenerregende neue Details über die bereits bekannten Herausforderungen. Die Diskussion brachte aber auch neue Gesichtspunkte zur politischen Steuerung der digitalen Revolution.

In der Fachwelt bekannte Teilnehmer der Tagung waren u.a. die Wirtschaftsinformatiker Prof. Dirk Stelzer und Prof. Daniel A. Klein, der Medienforscher Matthias Vollbracht und der juristische Experte im Datenschutz Prof. Thorsten Attendorn.

Klar war: Die Zeit drängt, zeitgemäße Antworten auf die Herausforderung der digitalen Revolution erfordern unkonventionelle und sehr prinzipielle politische Entscheidungen. Anregungen dazu kamen nicht zuletzt von den zeitlosen Erkenntnissen der Weltreligionen, bis hin zu den erstaunlichen biblisch-prophetischen Zukunftsszenarien einer globalen Überwachung.

Unendlicher Machtzuwachs?

Die Vorteile der Digitalisierung sind so selbstverständlich, dass sie oft gar nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Man könnte von einem kollektiven gewaltigen Machtzuwachs der Menschheit sprechen:

  • Vervielfältigung der leistbaren Arbeit in Qualität und Quantität (Beispiel "Industrie 4.0").
  • Vervielfältigung der verfügbaren Informationen und Kontaktmöglichkeiten für tendenziell jeden Erdenbürger. Erhöhte Marktreichweite und Marktdurchdringung für agile Unternehmen.
  • Vergeistigung von Arbeit bis hinunter in die Unterstützung und Planung bisher rein mechanischer und handwerklicher Tätigkeiten.
  • Alternative Informationen haben eine neue Chance, sich gegenüber politischer Manipulation der Mächtigen durchzusetzen, solange die Zugänge zum Internet frei bleiben.
  • Phänomenaler Machtzuwachs einzelner und noch mehr von Institutionen und Staaten, die den Datenrohstoff auszubeuten wissen.

Anthropologische Überforderung

Der letzte Vorteil zeigt bereits an, dass auch eine ins Maßlose gesteigerte Ungleichheit der Menschen droht: Wer über weniger institutionelle, intellektuelle und kapitalbedingte Zugänge als die Stärksten verfügt, fällt gnadenlos im Macht- und Kapitalwettbewerb zurück. Die Digitalisierung vergrößert die natürlichen Unterschiede zwischen Menschen ins Maßlose. Sie vergröbert und beschleunigt den Wettbewerb. Die große Mehrheit bleibt als überforderte Masse namenloser ‒ weil digital weniger präsenter ‒ Opfer zurück. Damit verbinden sich eine Reihe von auf dem Kongress aufgezeigten Gefahren. Sie können als Thesen einer anthropologischen, politischen und ökonomischen digitalen Überforderung gezeichnet werden:

  • Verdoppelung der Leistungsfähigkeit nach jeweils 18 Monaten sowie Miniaturisierung bedeuten neben Leistungszuwachs auch einen ständig beschleunigten anthropologischen und ökonomischen Anpassungszwang.
  • Die digitale Rationalisierung beschleunigt Prozessveränderungen ‒ die von Firmen erst kulturell verkraftet werden müssen ‒ und den Abbau von Arbeitsplätzen.
  • Der vervielfältigte Marktzugang für neue Informationsdienstleistungen lässt in wenigen Jahren Konzerne entstehen, die über ein Vielfaches an Kapitalausstattung gegenüber der herkömmlichen Realwirtschaft verfügen, ohne aber nur annähernd die vergleichbare Anzahl an Arbeitsplätzen und Lebenschancen bieten zu können.
  • Die Personalisierung von Massenartikeln („my jeans“) und von politischen Kampagnen erzeugt mentale Sonderwelten, die von Masterhirnen gesteuert werden.
  • Das Zusammenwachsen der Rechnersysteme von Unternehmen, Kunden und Lieferanten („Industrie 4.0“) lässt auch eine politische Nutzung und Kontrolle als technisch denkbare Nahprognose scheinen. Die unbestreitbare Entwicklung des "Cyberkrieges" zwischen Unternehmen, Geheimdiensten und Staaten weist in diese Richtung. Die Aushöhlung des Datenschutzes schreitet so schnell fort, dass Gesetzgebung und Politik ohnmächtig erscheinen. Sie müssen umso mehr nach wirksamen Prinzipien zum Schutz der Privatsphären und zum Schutz des Gemeinwohls suchen.
  • Die Flut an Smart Services für Gesundheit, Bildung und Unterhaltung, zu Hause und unterwegs („Internet der Dinge“) erzeugt die Illusion der ‒ in Wahrheit konsumgesteuerten ‒ Individuen, man könne ohne ständige Kontrolle der verschiedensten Lebensumstände nicht mehr leben. Es könnte für zu viele Menschen der Tod eines entspannten, anspruchslosen, unabhängigen, naturnahen und einfachen Lebens sein.

Politische Überforderung: Die Summe ist ein Vielfaches der Teile!

Die Überforderung der Politik und Gesetzgebung ist darin begründet, dass die globalen IT-Entwicklungen so schnell, so flächendeckend und mit so überwältigender Auswirkung auf den privaten, ökonomischen und politischen Alltag geschehen. Der Gesetzgeber muss die Probleme erst sachlich und juristisch verstehen.

Die wirtschaftliche und politische Verwertung der "Big Data" ist ein herausragendes Beispiel. Obwohl jede einzelne Datenüberlassung von Netzteilnehmern an Großnutzer rechtens und unproblematisch erscheinen kann, führt die massenhafte vernetzte Auswertung zu einer gewaltigen Kombination von ökonomischem Nutzen und Macht, die ein Millionenfaches der addierten Nutzen- oder Geschäftswerte der einzelnen Datenüberlassungen betragen kann.

Wie die Tagung zeigte, seien 95 % der gesammelten Big Data eher unbrauchbar. Der Rest von 5 % ist aber gewaltig und übersteigt numerisch anscheinend bereits die Zahl der „Sandkörner im Meer“. Erst die Masse der verglichenen Daten bringen den ökonomischen – und künftig politischen – Vorteil winziger Minderheiten gegenüber dem Rest hervor.

Die Konsequenzen dieses Tatbestandes spiegeln sich in drei bekannten, aber ungelösten politischen Herausforderungen. Diese Herausforderungen kann man bisher ohne weiteres auch Überforderungen nennen: Der Datenschutz, die Frage der Monopolkontrolle und der digitale Jugend- und Persönlichkeitsschutz.

Im Anschluss an diese grundsätzlichen Überlegungen und an die auf der Naumburger Tagung erfolgten Diskussionen ergeben sich zu diesen drei Punkten weiterführende Überlegungen:

Politische Überforderung: Datenschutz

Für den Datenschutz folgt aus der technischen Tatsache, dass aus einem Recht und aus einer Information das jeweils Vielfache an Rechten und Informationsgehalt gezogen und zurück auf den Informationsgeber angewendet werden können, eine Ausbeutung des Nutzers. Diese Ausbeutung könnte aus jetziger Sicht nur durch konsequente Löschung aller Daten nach einer gesetzlichen Maximalfrist, etwa 2 Jahren, verhindert werden. 

Tatsächlich legt die neue EU-Grundverordnung Datenschutz ab 2018 einen Löschungsanspruch des Nutzers für alle Internetanbieter wie Google oder Facebook bindend fest. Aber gegenüber der Dimension des Problems ist dies ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Informationshürden des Einzelnen sind viel zu groß und die Überwachbarkeit der Löschung geht gegen Null. Die Löschung dürfte nicht nur auf einzelne Bitten, sondern müsste automatisch erfolgen, wobei die Verlängerung mit der aktiven Erlaubniseinholung zu verbinden wäre.

Politische Überforderung:
Kontrolle künstlicher Monopole

Immer wieder kam in den letzten 30 Jahren wegen der schnellen Entwicklung einzelner Konzerne die Furcht auf, diese könnten nachfolgenden Unternehmen den Zugang zu Kunden erschweren oder digitale Dienstleistungen monopolisieren. Neue Märkte sind zwar – auch hier – so flexibel, dass neue Anbieter auch ganz neue Angebote und Technologien bringen können. Trotzdem ist so ein Polypol weniger marktbeherrschender „Spieler“ entstanden, deren Kapitalkraft für immer mächtigere Akquisitionen im Markt ausreicht. Microsoft und Facebook sind die bekanntesten davon.

Die Frage künstlicher Monopole ist aber in der Wirtschaftstheorie auch aus ganz anderer Sicht spannend. Ähnlich wie eine Immobilie ihren Ertragswert kaum durch die Leistung des Erbauers, sondern durch ihre geographische Lage erhält, die eine Gemeinschaftsleistung ist, oder wie die Banken ihre Sonderrolle im Finanzsystem durch das faktische Kreditschöpfungsmonopol in öffentlicher Währung erhalten, so könnte auch hier die Abschöpfung der Vorteile einer öffentlichen Infrastruktur und eines in den Daten vorliegenden Gemeinschaftskapitals vorliegen, die mit den Vorteilen keinesfalls abgegolten sind, die der einzelne Kunde von digitalen Geschäftsbeziehung hat.

Die einzelne Datenüberlassung mag – angenommen – in allen Fällen legal und vom konventionellen Vertragsrecht gedeckt sein. Die Massenauswertung führt aber zu einer ganz anderen Beurteilung. Die Masse mit ihren verborgenen Beziehungsmustern stellt ein menschliches Gemeinschaftskapital der Internetnutzer dar. Ihre Ausbeutung muss als die private Ausbeutung einer bisher noch kaum wahrgenommenen Gemeinschaftsleistung gesehen werden. Dabei ist übrigens die großzügige Nutzung technischer öffentlicher Infrastrukturen nur ein Nebenaspekt. 

Unter "Rente" versteht man in der ökonomischen Lehre ein Einkommen, das nicht unmittelbar auf eigener Leistung, sondern auf der Ertragskraft von anderweitig erworbenen Rechten beruht. Dies können Besitzanteile an Unternehmen oder staatlich an Einzelne gewährte Privilegien sein, wie beispielsweise die Handels-, Salz-, Bergwerks-, Münzprägungs- oder Steuereinnahmeprivilegien, die im Feudalismus an einflussreiche Einzelne vergeben wurden. Die ungeheuerlich große private Rente, die aus einem Gemeinschaftskapital wie der globalen Datenstruktur bezogen wird, könnte nicht nur ökonomisch unangemessen sein, sondern den Machtvorteil von Minderheiten gegenüber dem Rest der Netznutzer uneinholbar machen.

Die Informatik- und Rechtsexperten machten allerdings den Diskussionsteilnehmern keine Hoffnung, dass technische Lösungen für die Rückführung der so erkennbaren privaten Megarenten an die Internetnutzer über Gebühren oder Steuern der öffentlichen Hand oder über Vertragsnormen möglich wären. Lediglich die technische Infrastrukturnutzung sei über Gebühren geregelt. Nur liegen hier die Endkosten gar nicht bei den datenauswertenden Konzernen, sondern überwiegend bei den einzelnen Nutzern des Netzes, und sind im Einzelfall recht überschaubar.

Politische Überforderung:
Jugend- und Persönlichkeitsschutz

Die aus Sicht der politischen Kultur, der Gesundheit und des christlichen Engagements vermutlich bedenklichste Gefahr der Datenüberflutung liegt in der Missachtung der menschlichen Persönlichkeits­schutzrechte und der menschlichen Würde in mehreren Hinsichten. Die zeitliche Begrenzung des Wochenendes führte leider zu einer nur sehr kurzen Erwähnung dieser Fragen.

Die eine Seite dieser Problematik ist die radikale Entprivatisierung aller digitalen Aktivitäten. Ein Vertraulichkeitsschutz ist faktisch nicht zu garantieren. Wirtschaftliche und politische Zugriffe auf die privatesten Sphären sind grundsätzlich nicht vermeidbar.

Die andere Seite sind Internet- und Pornographiesucht in einem bisher völlig ungekannten Ausmaß. Es ist die anthropologisch verankerte Unfähigkeit, massenhaft öffentlich gewordene Privatheit zu bewältigen und zu ertragen.  Es sind epidemische Krankheitsphänomene, von denen auch die jüngsten Internetnutzer im Vorschulalter inzwischen massenhaft betroffen sind. Alarmierende Studien zur virtuell bewirkten Einsamkeit bei Erwachsenen, zur Reduktion der Gemeinschaftsfähigkeit und zu massenhaften Negativwirkungen auf Scheidungsszenarien liegen ausreichend vor. Die Auswirkung auf Kinder ist wegen der Beschleunigung der Entwicklungen noch kaum im öffentlichen Bewusstsein.

Die zentrale politikwissenschaftliche Erkenntnis daraus lautet, dass das Internet eine gesteigerte und radikale Form von Öffentlichkeit darstellt. Sie muss, wie der öffentliche Raum sonst auch, durch öffentliche Regelungsmaßnahmen vor Schaden geschützt werden. Freie Netzinhalte sind radikal öffentliche Inhalte. Private Inhalte, auch von Privatunternehmen, können nur durch allerhöchsten technischen – und im Anfangsstadium befindlichen gesetzlichen – Aufwand geschützt werden.

Bei Wahrung der Meinungsfreiheit die Öffentlichkeit vor Missbrauch zu schützen, das geht nur unter einer Bedingung. Man muss gesetzlich radikal zu den Grundsätzen menschlicher Würde zurückkehren, die in allen Weltkulturen als Verhaltens-, Persönlichkeits- und Gemeinschaftsethik verankert sind. Diese sind keineswegs im "postmodernen" Sinne beliebig. Sie sind, entgegen überholten sozialwissenschaftlichen Mythen, anthropologisch im Wesentlichen konstant. Ethische Beliebigkeit und Willkür bedeuten den Beginn der Barbarei, den Tod jeder gemeinschaftlich respektierten Freiheit, das Absterben von Zivilisation schlechthin. Die westliche Staatengemeinschaft ist noch weit davon entfernt, dem Ausmaß dieser Herausforderung gerecht zu werden.

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1) Wirtschaftsfachtagung am 10.-12. Nov. 2016 in Naumburg/Saale

Die digitale Revolution

Wie mit dieser Herausforderung umgehen?

Veranstalter:

Studiengemeinschaft Wort und Wissen e.V., Fachgruppe Wirtschaftsethik
www.wort-und-wissen.de

Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e.V.
www.wirtschaftundethik.de

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